Samstag, April 29, 2006

Erst die Strukturreform



Erst die Strukturreform
27.04.2006
Gastbeitrag von Bundesministerin Ulla Schmidt in der Frankfurter Rundschau.


In den vergangenen Wochen hat sich eine bunte Diskussion über die Möglichkeiten entwickelt, welche sich im Krankenkassen-Bereich zur Mittelaufbringung bieten. Weniger spektakulär war die Diskussion über den Mitteleinsatz in der Gesundheitsversorgung - obgleich die Frage der Mittelverwendung nicht weniger wichtig ist. Im Gegenteil: Bevor über eine andere Finanzierung des Gesundheitswesens entschieden werden kann, muss sich die Politik zunächst den wenig effizienten Strukturen der Ausgabenseite widmen.

Ich warne hier vor einer gewissen Lässigkeit, denn es ist ein Muss, die knappen Ressourcen dort hinzubringen, wo sie am dringendsten benötigt werden und am effizientesten eingesetzt werden können.

Zwar hat das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) von 2003 eine Reihe von Maßnahmen in dieser Zielrichtung auf den Weg gebracht; doch hapert es bei der Umsetzung durch die Gemeinsame Selbstverwaltung - Stichwort: Steuerung der Arzneimittelausgaben. Und manche Maßnahmen gehen auch nicht weit genug. Wer will, dass unser Gesundheitswesen eine gute Chance hat, auch in der Zukunft die nötigen Leistungen bereitzustellen, der muss Mittelaufbringung und Mittelverwendung als gleichrangig ansehen. Erst die Strukturreform, dann die Finanzreform!

Wir brauchen wirksame Maßnahmen, um die verkrusteten Strukturen des Gesundheitswesens weiter aufzubrechen, Innovationen zu fördern und den Einsatz der Ressourcen zu optimieren.

Denn Wettbewerbs-Verhältnisse durch einen neuen Ordnungsrahmen mit leistungsfähigen Teilnehmern funktionieren nur, wenn Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung besser werden. Dabei schlage ich vor - ohne Anspruch auf Vollständigkeit -, vor allem folgende Aspekte in der Debatte über Strukturreformen zu diskutieren:

Es ist schon eine Binsenweisheit, dass es vor allem in Ballungsgebieten Überkapazitäten in nahezu allen Versorgungsbereichen gibt. Zwar existieren Planungsinstrumente für die ambulante und stationäre Versorgung. Aber diese haben Überkapazitäten nicht verhindern können. Erfolgversprechender sind hier ein Abbau der Planungsbürokratie und stärkerer Einsatz wettbewerblicher Instrumente. Die bestehende Detailplanung sollte deshalb allenfalls als integrierte Rahmenplanung ausgestaltet sein und auf eine Feinsteuerung der Kapazitäten verzichten. Notwendig sind stattdessen mehr Verhandlungslösungen von Krankenkassen und Leistungserbringern.

Über die Unterversorgung in ländlichen Regionen - nicht nur in den neuen Bundesländern - wird oft berichtet. Ihr muss vor allem mit finanziellen Anreizen begegnet werden. Die geplanten Änderungen im Vertragsarztrechtsänderungsgesetz sind erste Schritte in diese Richtung. Eine Neuordnung der Vergütungssysteme muss folgen.

Die Verschwendung von Ressourcen findet vor allem an Schnittstellen der Versorgung statt. Die weitergehende Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung und die Ermöglichung vertragsärztlicher Tätigkeiten am Krankenhaus können die starre Abschottung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung überwinden.

Zentrales Steuerungsinstrument ambulanter wie stationärer Leistungen ist die Honorierung. Es ist ein - oft erzähltes - Märchen, dass Legislative und/oder Exekutive durch ihre Vorgaben die Ausgestaltung der Honorierung vertragsärztlicher Leistungen bestimmten. Kein Märchen ist, dass sich das System der floatenden Punktwerte unter einem festen Budget selbst ad absurdum geführt hat. Das ist nicht Folge politischer Eingriffe, sondern der mit diesem System verbundenen Anreize zur Leistungsausweitung. Eine Reform innerhalb dieses Honorierungssystems vermag die Strukturprobleme nicht zu lösen. Von daher besteht prinzipielle Einigkeit - entsprechende gesetzliche Regelungen wurden schon mit dem GMG 2003 festgelegt - dass zumindest für ein vereinbartes Mengengerüst ärztlicher Leistungen ein fester Preis garantiert sein muss. Die Ärzte müssen wissen, was sie an Einkommen zu erwarten haben, und ihre Einkommen besser kalkulieren können. Sollten gleichwohl Mengenausweitungen von Leistungserbringern vorgenommen werden, ist dies nur akzeptabel, wenn sie auf einer veränderten Morbidität der Versicherten beruhen.

Die im GMG festgelegte Neuordnung der Vergütung ärztlicher Leistungen über so genannte Regelleistungsvolumina wurde bisher durch die Gemeinsame Selbstverwaltung leider nicht in die Praxis umgesetzt. Daher sollten praktikable Alternativen für die Vergütung ärztlicher Leistungen gesucht werden. Diese könnten - zum Beispiel - bei Hausärzten in einem weitgehend pauschalierten und vereinfachten Vergütungssystem liegen.

Demgegenüber müssen die Teile der fachärztlichen Versorgung, die sowohl am Krankenhaus als auch in der Niederlassung erbracht werden können, zu vergleichbaren Konditionen honoriert werden. Weil es die Gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen nicht geschafft hat, in zumutbarer Zeit auch nur Ansätze eines neuen Honorierungssystems zu entwickeln, wäre die Professionalisierung des Verfahrens analog der Entwicklung eines neuen Vergütungssystems im stationären Bereich (Fallpauschalen oder DRGs) die beste Lösung. Es ist im Übrigen geradezu paradox, dass diejenigen, die es bis heute nicht geschafft haben, die zwingend notwendigen Vorarbeiten für eine neue Honorierung abzuliefern, jetzt deshalb die notwendig gewordene Verschiebung der Neuregelung kritisieren.

Um den Wettbewerb zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu intensivieren, müssen gleiche Rahmenbedingungen für beide Versorgungsbereiche geschaffen werden. Dabei sollte die Reform genutzt werden, hochspezialisierte Leistungen und besonders aufwendige Therapien, die in der Regel auch besonders hohe Medikamentenkosten verursachen, künftig in besonders qualifizierten Zentren zu konzentrieren. Das ist ein wichtiges Element, um häufig sehr teure Innovationen auch künftig für alle Patientinnen und Patienten verfügbar zu halten.

Im Gemeinsamen Bundesausschuss wird durchaus anerkennenswerte Arbeit geleistet. Es ist aber nicht zu verkennen, dass in der gemeinsamen Selbstverwaltung Handlungsblockaden und der kleinste gemeinsame Nenner transparente und schnelle Entscheidungsprozesse behindern.

Offensichtlich steht das Eigeninteresse der entsendenden Organisationen (Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen, Krankenhäuser) oft vor dem Gesamtinteresse. Hier muss dringend eine Professionalisierung der Handlungsabläufe erfolgen, um die notwendigen Entscheidungsprozesse zu beschleunigen und sachgerecht zu gestalten.

Die kaum noch überschaubare Vielzahl von Gremien und Institutionen muss deutlich reduziert werden. Damit lässt sich der bürokratische Aufwand und das Nebeneinander höchst unterschiedlicher Anforderungen für gleiche oder ähnliche Tätigkeiten reduzieren.

Nicht nur die Gremien der gemeinsamen Selbstverwaltung sind reformbedürftig. Gleiches gilt auch für Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen. Damit Krankenkassen eine gute Versorgung für ihre Versicherten organisieren können, sollten diese künftig eine hinreichende Größe haben. Geeignetes Mittel sind in diesem Rahmen kassenartenübergreifende Fusionen, da für Kassen im Wettbewerb eine Aufteilung nach Kassenarten nicht mehr zeitgemäß ist.

Die Länder wollen ihren Einfluss auf Krankenkassen und die Versorgung in ihren Gebieten bewahren. Der Aufbau neuer Fusionshindernisse wäre dabei nicht zielführend. Richtig wäre eine problemgerechte Aufsichtsreform: warum sollte nicht die Finanzaufsicht der einen Hand, z. B. dem Bundesversicherungsamt übertragen werden, das auch den Risikostrukturausgleich abwickelt, und der anderen Hand, den Ländern die Aufsicht über die Versorgungspolitik aller Krankenkassen?

Letzteres sollte bei den Ländern angesiedelt sein, da entsprechende Entscheidungen stets mit Blick auf regionale Entwicklungen zu treffen sind.

Ein wichtiges Hindernis für die schnelle Erneuerung des Gesundheitswesens sind die stets eifrig vorgetragenen "Bedenken" der Verbände. Diese tragen zwar keine operative Verantwortung, artikulieren aber zu oft nur Hemmnisse und Erschwernisse gegen die konsequente Umsetzung von Reformen. Wie in anderen Versorgungsbereichen (Telekommunikation, Verkehr, Post, ...) sollten hierzu neue Formen der Wahrnehmung von Verantwortung entwickelt werden, die auch zu mehr Verbindlichkeit führt.

Auch die Kassenärztlichen Vereinigungen könnten weiter reformiert werden. Im Rahmen einer solchen Reform liegt es nahe zu klären, welche öffentlich-rechtlichen Ordnungsfunktionen die Kassenärztlichen Vereinigungen künftig ausüben und mit welchen Mitteln sie diese gegenüber den einzelnen Vertragsärzten durchsetzen sollen. Soweit sie Sicherstellungsauftrag, Honorarverteilung und Steuerung der veranlassten Leistungen nicht mehr übernehmen wollen - wie kürzlich in der Kassenärztlichen Bundesvereinigung diskutiert - oder können, stellen sie selber ihre Existenzberechtigung als Körperschaften auf den Prüfstand.

Es gibt in diesem Zusammenhang unterschiedliche Signale aus der Ärzteschaft. Wer aber hierzu Entscheidungen fordert, sollte sich über die Konsequenzen im Klaren sein.

Zusammengefasst bedeutet das: Unser Gesundheitssystem lässt sich weder mit wenigen konzeptionellen Festlegungen noch mit sprunghaften Änderungen auf die Beanspruchungen der Zukunft vorbereiten. Eine notwendige Rundum-Modernisierung muss stetig erfolgen. Eine Maßnahme baut auf der anderen auf. Jeder muss mitziehen und bereit sein, sich Neuem zu stellen, um Qualität, Sicherheit und Verlässlichkeit der gesundheitlichen Versorgung für alle Menschen in Deutschland auch in Zukunft zu gewährleisten.