Samstag, April 29, 2006

Gesundheitsreform darf nicht nur an der Finanzschraube drehen

Bertelsmann Stiftung:
Gesundheitsreform darf nicht nur an der Finanzschraube drehen

Gütersloh - Viele gesetzlich Krankenversicherte haben Schwierigkeiten, die Zuzahlungen für rezeptpflichtige Medikamente aufzubringen - in dieser Gruppe tritt dieses Problem viermal häufiger auf als unter privat Versicherten. Das zeigt der aktuelle "Gesundheitsmonitor" der Bertelsmann Stiftung.

Etwa 25 Prozent der GKV-Versicherten empfinden es als schwierig, die Zuzahlungen für rezeptpflichtige Arzneimittel zu leisten, während es in der PKV nur 6 Prozent sind. Außerdem lehnen gesetzlich Krankenversicherte weitere Eigen­beteiligungen im Zuge einer Gesundheitsreform wesentlich stärker ab als Privatversicherte. 85 Prozent der gesetzlich Versicherten sind auch bei einer erheblichen Senkung der Kran kenkassen-Beiträge nicht bereit, jährlich Krankheitskosten in Höhe von bis zu 500 Euro selbst zu übernehmen.

Im Vergleich dazu sprechen sich "nur" 35 Prozent der Privatversi cherten gegen eine Eigenbeteiligung in dieser Höhe aus. Schon heute ist für 76 Prozent der gesetzlich Versicherten der Gesamtbetrag der Zuzahlungen zu Medikamenten und medizinischen Dienstleistungen zu hoch.

Dies hat Konsequenzen für die mögliche Ausgestaltung der nächsten Gesundheitsreform. "Wir wissen beispielsweise aus der Schweiz, dass durch praktisch alle dort wählbaren Selbstbeteiligungstarife die teilnehmenden Versicherten Kosten einsparen können", sagt Jan Böcken, Projektleiter der Bertelsmann Stiftung.

In Deutschland kann heute nur ein kleiner Kreis von Versicherten diese Option wählen. Wenn eine neue Reform dies für alle GKV-Ver­sicherten zulässt, würde sich vermutlich ein großer Teil aufgrund der aktuellen Zuzahlungs­belastung gegen jegliche Modelle der Selbstbeteiligung entscheiden.

"Damit bliebe einem effektiven Instrument zur Steuerung der Leistungsinanspruchnahme die Breitenwirkung ver­sagt", so Böcken. Nach Ansicht der Bertelsmann Stiftung sollte eine nachhaltige Gesundheitsreform sich bei der Ausweitung der finanziellen Anreize auf alle Versicherten konzentrieren. Dies gilt auch deshalb, weil der Gesundheitszustand der Versicherten laut Studie in der GKV schlechter ist als der in der PKV: 22 Prozent der gesetzlich Versicherten beschreiben ihren Gesundheits­zustand als weniger gut oder schlecht, 23 Prozent geben an, chronisch krank zu sein (9 und 12 Prozent in der PKV).

GKV-Versicherte haben also nicht nur weniger finanziellen Spiel raum, sie haben auch aus gesundheitlichen Gründen oft nicht die Möglichkeit, weniger Leis tungen in Anspruch zu nehmen. Doch selbst die gegenwärtig diskutierten Reformvorschläge, die sich auf alle Versicherten aus GKV und PKV beziehen, würden allein zu kurz greifen.

Aus Sicht der Bertelsmann Stiftung müssen verstärkt auch Steuerungsoptionen auf der Leistungsanbieterseite in die Über­legungen einbezogen werden. Erste Ergebnisse aus internationalen Versuchen wie den ka­lifornischen "Pay for Performance" (Geld folgt Leistung)-Programmen weisen den richtigen Weg. Bei dieser leistungsorientierten Vergütung erhalten Ärzte Bonuszahlungen für das Er­reichen bestimmter Qualitätsziele, die Anwendung standardisierter Behandlungs- und Do­kumentationsverfahren, für hohe Patientenzufriedenheit sowie die Durchführung von Prä­ventionsmaßnahmen oder Investitionen in neue Informationstechnologien.

Dass es in der aktuellen Debatte nicht nur um das Geld geht, zeigen die derzeitigen Ärzte­streiks in Deutschland. "Themen wie Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen und Freizeitaus gleich gewinnen an Bedeutung. Zukünftig werden auch ethische Aspekte und die Frage des Selbstverständnis der Ärzte im Verhältnis zu anderen Gesundheitsprofessionen die Versor­gung weit mehr verändern als das Drehen an der Finanzschraube", so Böcken. Ein wirklich visionärer Reformentwurf würde diese Themen schon heute einbeziehen.

Der Gesundheitsmonitor der Bertelsmann Stiftung befragt repräsentativ zweimal jährlich die Bevölkerung und einmal im Jahr Ärzte zu aktuellen Themen des deutschen Gesundheitswe­sens. Bislang wurden rund 12.000 Versicherte und 2.000 Ärzte befragt.•